„Sei du, der du bist“: Podiumsdiskussion „God meets Gays“ lud zum Dialog ein
18. Juli 2024; ksd
Köln. „Wir müssen eine Kirche sein, die sich dem Dialog stellt.“ Mit diesen Worten machte Kölns Stadtdechant Msgr. Robert Kleine das Anliegen des Stadtdekanats deutlich, erstmals im Vorfeld des ColognePride zu einer Podiumsdiskussion im DOMFORUM einzuladen. Unter dem Thema „God meets Gays“ (Gott trifft homosexuelle und weitergedacht queere Menschen) diskutierten neben Kleine die Leiterin der katholischen Telefonseelsorge, Annelie Bracke, sowie Ken Reise, der als Travestiekünstlerin Julie Voyage auftritt, mit dem Publikum darüber, wie Kirche und Gesellschaft zu einem respektvollen und selbstverständlichen Miteinander mit ihren queeren Mitgliedern finden können. Moderiert wurde die Veranstaltung, der eine Vorführung des Films „Der verlorene Sohn“ („Boy Erased“) über die Problematik von Konversionstherapien vorausgegangen war, von Dragqueen Cassy Carrington* alias Ralf Rotterdam.
Als Seelsorger und als Priester, der seit mehr als 30 Jahren im Dienst der Kirche steht – davon zwölf Jahre als Stadtdechant von Köln –, sehe er es als seine Aufgabe an, gerade mit den Menschen in einen Dialog zu treten, die eine andere Meinung haben oder andere Positionen vertreten als er oder die Kirche, so Kleine. Zuhören, versuchen zu verstehen, warum der andere so denkt, die eigene Sicht erklären – das sind die Grundschritte im Dialog. „Am Ende bedeutet Meinungsaustausch ja nicht, dass der andere meine Meinung haben muss. Aber es geht darum, dass man darüber gesprochen hat“ und mehr noch, „dass ich den anderen wertschätze mit dem, was er ist und was er denkt“, betonte der Stadtdechant.
Dass man einander ein bisschen besser verstehe, sei das Mindeste, was er sich von dem Abend erhoffe. Und darum, so Kleine, habe er die Veranstaltung auch entgegen aller Kritik durchgetragen und stattfinden lassen. Im Vorfeld hatte es eine Protest-Kampagne der Plattform citizengo.org gegeben, mit der Kardinal Rainer Maria Woelki aufgefordert werden sollte, „seinen Stadtdechanten zurückzupfeifen und die Teilnahme am ColognePride abzusagen“. Bis zum Nachmittag der Veranstaltung wurden dort rund 21.280 Unterschriften verzeichnet. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) hatte zuvor in einem auch auf den offiziellen kirchlichen Plattformen vatican.news und katholisch.de verbreiteten Artikel die Seriosität der Plattform und die Hintergründe in Frage gestellt. „Recherchen aus dem Jahr 2021 machten bekannt, dass die Stiftung unter anderem vom Putin-treuen russischen Oligarchen Konstantin Malofejew gefördert wurde, der auch enge Beziehungen zur deutschen AfD und zum französischen Rassemblement National unterhalten soll“, so die KNA. Gleichwohl war es den Veranstaltern wichtig, zu einem offenen Podium einzuladen und so auch Bedenkenträgern oder Kritikern die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern. Mehrfach wurde Stadtdechant Msgr. Kleine an diesem Abend für seinen Mut gedankt und Respekt gezollt, zu diesem Podium eingeladen zu haben.
Kann denn Liebe Sünde sein?
Ob denn Liebe wirklich Sünde sein könne, wollte Moderatorin Cassy Carrington von Kleine wissen. „ Liebe kann keine Sünde sein, wenn ich den einzelnen Menschen sehe“, sagte der Stadtdechant. „Ich glaube, dass jede und jeder Mensch von Gott geliebt ist. Mit seinen Talenten, mit seinen Fähigkeiten, mit seinen Schwächen und mit seiner sexuellen Orientierung ist jede und jeder von Gott geliebt. Das ist meine feste Überzeugung.“
Die katholische Kirche und auch andere christliche Konfessionen vertreten die Auffassung, dass Mann und Frau füreinander bestimmt sind, erläuterte Kleine. Aber es gebe nun einmal auch Menschen, die Menschen des gleichen Geschlechts lieben. „Für mich geht es dabei nicht in erster Linie um Sexualität, die ausgelebt wird, sondern es geht um Liebe und um Verantwortung. Es geht darum, dass Menschen treu sind. Es gibt schwule und lesbische Paare oder queere Paare, die, so weiß ich, treuer sind, also manche heterosexuelle Paare. Und da kann ich nicht sagen, wenn zwei Menschen in Verantwortung zueinanderstehen, sich begleiten bis in den Tod hinein, einander die Hand halten in Krankheit und in Leid, da kann ich nicht sagen, weil die sich lieben, ist das Sünde. Das ist für mich keine Sünde, sondern Leben in Verantwortung.“
Es geht um Identität
Cassy Carrington bedauerte, dass bei der Kritik im Vorfeld „alles immer sehr sexualisiert“ worden sei. „Dabei geht es um Identität“, betonte die Künstlerin. „Es geht darum, wie Menschen sind und wie wir Menschen sehen.“ Ken Reise erzählte von seiner Kindheit und Jugend in einer christlichen Familie. „Ich darf mich glücklich schätzen, dass ich diesen Kosmos hatte, der mich behütet hat“, so der Künstler. Seine Homosexualität wurde in der Familie nie groß thematisiert und sei kein Problem gewesen. „Da herrschten Liebe und Respekt untereinander und es gab Unterstützung.“ Sein Opa, damals schon weit in den 80ern, habe gesagt: „Hauptsache, er määt et joot“, er macht es gut.
Heute sehe er dagegen, dass viele Menschen große Probleme haben, wenn sie sich outen, ob im ländlichen Bereich oder in der Stadt, sagte Reise. Dabei sei dies ein Schritt, der sehr viel Mut erfordere und ernste Folgen haben könne, im privaten wie im beruflichen. Deshalb sei es ihm wichtig, „auch mal den Mund aufzumachen“, gerade in seiner Rolle als Julie Voyage. Der Entertainer tritt unter anderem im Karneval auf – von der Pfarrsitzung bis zur Lanxess-Arena – und bietet Stadtführungen an in seiner Persona Julie Voyage.
Im April war Reise als Julie zudem Schirmperson bei der 72-Stunden-Aktion des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend im Erzbistum Köln. Er habe sich gefragt, „ob das richtig ist, im Fummel, im Kostüm Jugendliche zu unterstützen, zu betreuen und wirklich auch für die Aktion zu stehen“, so Reise. „Dann habe ich lange darüber nachgedacht und es war die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe.“ Rund 3000 Jugendliche haben sich bei der diesjährigen Aktion in 145 sozialen Aktionen engagiert. Statt sich über manches kirchliche Bodenpersonal zu ärgern, unterstütze er lieber so ein Engagement. Er freue sich, „wenn ich diese ganzen Gruppierungen sehe, die einfach ein tolles, mitmenschliches Zusammenleben haben, die sich kümmern, die tolle Dinge machen, die soziales Engagement zeigen“, sagte Reise. „Und das funktioniert überall da, wo Liebe mit im Spiel ist, Selbstreflexion und Respekt.“
Queere Jugendliche brauchen Unterstützung
In der Gesellschaft sei es immer noch eher so etwas wie „normal“, dass sich Mann und Frau lieben, konstatierte Annelie Bracke. „Zumindest nach außen.“ Für viele junge Menschen sei es daher schwierig, als queer anerkannt zu werden, selbst wenn das Elternhaus es mittrage. Aber unter Gleichaltrigen sei dies nicht so einfach. Deswegen sei es gut, wenn Menschen wie Cassy Carrington in Schulen und anderen Gruppen Aufklärungsarbeit leisten. Sie wünschte sich im Verlauf der Diskussion aber nicht nur die Unterstützung queerer Jugendlicher durch Eltern, Schule, Kirche und Gesellschaft, sondern auch Unterstützung für die Eltern. Für Menschen ihrer Generation sei es schwierig, mit all den Begrifflichkeiten umzugehen, die es heute gebe, wie schwul, lesbisch, pan, trans, inter, bi und non-binär.
Die Suizidrate unter queeren Jugendlichen sei sehr viel höher als bei heterosexuellen jungen Menschen, berichtete Carrington. Sexuelle Identität gehöre zum Kern der Persönlichkeit, erläuterte Bracke. Gerade für junge Menschen sei es sehr schwierig, wenn sie sich grundsätzlich nicht angenommen fühlten mit ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität. Wenn dann, wie im Film, so ein „Kirchensatz“ falle wie „Wenn du so bist, wie du jetzt bist, liebt Gott dich nicht“ , können die Folgen katastrophal sein, wurde auch in der Diskussion deutlich.
Papst und Vatikan gehen Schritt auf queere Menschen zu
Im Verlauf des Abends berichteten Teilnehmer auch von erlebten und erlittenen Verletzungen in der Kirche, von Diskriminierung und Ausgrenzung, für die es bis heute keine Entschuldigung der Kirche gebe. „Für mich war immer klar, schwul sein und Christ sein, das geht nicht“, berichtete ein Teilnehmer im mit rund 130 Gästen vollbesetzten Foyer des DOMFORUMs. Das Ganze habe so weit geführt, dass er an einer schweren Depression erkrankt sei und sich dann in der Klinik habe eingestehen müssen, schwul zu sein. 2018 habe er sich dann in seiner Pfarrei geoutet. „Der ,Erfolg‘ war, dass ich alle Ehrenämter niederlegen musste.“ Zudem sei ihm nach Lektüre vatikanischer Dokumente klar, dass er als schwuler Mann „nicht weihewürdig“ sei.
Papst Franziskus und der Vatikan sind vor allem im vergangenen Jahr einen Schritt auf queere Menschen zugegangen. Mit der Erklärung „Fiducia supplicans – über die pastorale Sinngebung von Segnungen“ schufen sie für Seelsorger und Seelsorgerinnen die Möglichkeit, queere Paare zu segnen. Dieser Segen darf nicht in einem liturgischen Rahmen stattfinden und ist nicht mit dem Sakrament der Ehe gleichzusetzen. Die katholische Kirche erkenne nur die Ehe zwischen Mann und Frau als Sakrament an, als „ein Zeichen der Liebe Gottes in dem Sinne, dass zwei sich vereinen und dass natürlich auch das beiderseitige Wohl, aber auch Elternschaft ermöglicht ist“, erläuterte Stadtdechant Kleine.
„Für Papst Franziskus ist es nicht einfach“
In der Weltkirche sei die vatikanische Erklärung sehr unterschiedlich aufgenommen worden. Während sie mit Bezug auf die Segnungen gleichgeschlechtlicher und sogenannter irregulärer Partnerschaften zwischen Wiederverheiratet-Geschiedenen für die einen ein viel zu kleiner Schritt sei, sei dies für andere „viel zu weit gesprungen“, so Kleine. Während manche Theologen die Auffassung vertreten, dass die kirchliche Lehre auf Basis des Neuen Testaments geändert werden könne, lehnten andere Theologen dies ab. „Die Segnung von Menschen die sich lieben außerhalb eines liturgischen Aktes ist für mich ein Türspalt, wo der Papst genau dem gerecht wird, dass wir niemanden verurteilen, dass wir Menschen mit Respekt begegnen, dass wir ihre Liebe ernst nehmen“, sagte der Stadtdechant, „aber wir können es eben nach der Lehre nicht sakramental mit einer Eheschließung.“
Er wolle aber auch noch einmal für das Bewusstsein werben, dass Papst Franziskus es nicht einfach habe. Vor 200 Jahren habe niemand mitbekommen, wie Dinge in anderen Teilen der Welt und der Weltkirche gehandhabt würden, heute sei durch das Internet alles sichtbar. Und so bewege sich die katholische Kirche zwischen Polen wie den Forderungen des „sehr forschen“ deutschen Synodalen Weges auf der einen Seite und beispielsweise afrikanischen Bischofskonferenzen auf der anderen Seite. In Ghana habe die katholische Bischofskonferenz etwa die islamische Regierung dabei unterstützt, Homosexualität unter Strafe zu stellen, berichtete Kleine. Nicht nur Kurienkardinal Peter Turkson, sondern auch Papst Franziskus selbst hatten sich in der Folge klar gegen eine Kriminalisierung von Homosexualität ausgesprochen.
„Wir haben etwas ganz Kostbares zu verkünden“
„Es braucht mehr“, betonte Annelie Bracke. „Nicht, weil wir uns dem Zeitgeist anpassen, was manche Kritiker sagen. Sondern wir haben etwas ganz Kostbares: Wir haben ein Evangelium, das Gottes Liebe verkünden möchte, wo jemand wirklich sagt: ,Ich bin ein Mensch gewordener Gott, ich will euch etwas ganz Tolles vermitteln.‘ Und das möchten auch die Menschen erfahren und zugesprochen bekommen, die queer sind – wenn sie überhaupt noch mit Spiritualität und Kirche zu tun haben wollen.“ Denen werde der von Kleine angesprochene Türspalt nicht reichen, so die Diplom-Psychologin. Die Linie, die der Stadtdechant nachvollzogen habe, sei aber klar. „Das alleine kann jetzt nicht ein Papst entscheiden“, meinte Bracke, „da muss wahrscheinlich und hoffentlich auch in der Kirche viel geredet werden und muss es synodale Wege geben – hoffentlich auch mit den Beteiligten und Betroffenen.“
Eines der schönsten Worte des heiligen Franz von Assisi sei „Verkündet das Evangelium – wenn es sein muss mit Worten“, so Kleine. „Also vor allem durch eine Haltung und durch Taten.“ Noch immer engagieren sich junge Menschen in der Kirche, „weil es sinnstiftend ist, weil wir eine frohe Botschaft haben, die wir leben müssen“, betonte der Stadtdechant, dessen eigenes Leitwort seit seiner Priesterweihe „Dient dem Herrn in Freude ist“. „Wir sollen Sauerteig sein, auch und gerade in dieser Gesellschaft, auch hier in Köln. Auch wenn die immer säkularer wird.“
Jeder Mensch verdient Respekt
Die Kirche müsse Charismen und Talente fördern. Darum engagiere sich das Erzbistum in Kitas, Familienzentren, Schulen oder mit dem neuen Bildungscampus in Kalk, so Kleine. „Kinder muss ich befähigen. Sie müssen wachsen können und dazu gehört auch sexuelle Orientierung und Identität.“ Dies gehöre zum Auftrag der Kirche, betonte der Stadtdechant. „Ich glaube fest daran, wenn jeder Mensch ein Abbild Gottes ist, dass ich zuerst mal diesen Menschen stärke und dass ich nicht sage: Du kannst nichts, du bist nichts, du glaubst falsch, du lebst falsch, du liebst falsch‘, sondern dass ich zuerst einmal sage: Sei du, der du bist – und finde das heraus.“
Vielleicht sei es ja möglich, so der Stadtdechant, dass im Rahmen der Weltsynode im Vatikan manches noch einmal neu angeschaut und bewertet würde. Und dass die Weltkirche einen Weg finde, die Einheit in Verschiedenheit zu leben. Sodass die kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede geachtet, aber gleichzeitig Spielräume ausgelotet und genutzt würden. „Ich glaube, dass es immer noch Spielraum gibt in dem, was wir Respekt nennen“, sagte Kleine. „Auch Papst Franziskus hat ganz bewusst von Respekt gesprochen, den jeder Mensch verdient. Alles andere ist respektlos – und das steht einem Christen nicht gut an, respektlos zu sein.“
Autorin: Hildegard Mathies
* wir verwenden die weibliche Form, wenn Ralf Rotterdam in seiner Persona Cassy Carrington agiert
Am Freitag, 19. Juli, treten Julie Voyage und der Kölner Jugendchor St. Stephan auf der Bühne auf dem Alter Markt auf. Beginn ist gegen 20 Uhr/20.10 Uhr. Mehr Informationen in diesem Beitrag.