Rund 3000 Teilnehmer*innen bei ökumenischem Schweigegang für Anteilnahme und gegen Antisemitismus

27. Oktober 2023; KSD

 

UPDATE (8. November 2023): Rund 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben am Mittwochabend (8. November) am Schweigegang der katholischen und der evangelischen Kirche in Köln teilgenommen. Er stand unter dem Leitwort „Wir trauern um die Opfer des Terrors gegen Israel. Wir stehen an der Seite unserer jüdischen Mitbürger*innen!“. Vom Dom bis zur Synagoge zogen die Menschen schweigend und friedlich durch die Stadt. Mit dabei: NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, NRW-Innenminister Herbert Reul, Dorothee Feller, NRW-Ministerin für Schule und Bildung, sowie Nathanel Liminski, NRW-Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien, und NRW-Justizminister Benjamin Limbach. Auch der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Dr. Thorsten Latzel, war mit dabei. Vom Erzbistum Köln hatte Generalvikar Msgr. Guido Assmann seine Teilnahme und Unterstützung zugesagt. Der Schweigegang war in enger Abstimmung mit der Synagogen-Gemeinde Köln gestaltet worden. Zu den Teilnehmern zählten auch jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, unter ihnen Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorstand der Synagogen-Gemeinde.

Zu Beginn begrüßten die drei Veranstalter, Stadtdechant Msgr. Robert Kleine, Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger und der Vorsitzende des Katholikenausschusses in der Stadt Köln, Gregor Stiels, die Menschen am Dom. „Durch Ihre Teilnahme setzen Sie ein klares, beredtes, wenn auch schweigendes Zeichen“, dankte Stadtdechant Kleine den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. „Es herrscht Krieg, in Israel, im Gaza-Streifen. Es gibt Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Menschliches Leid, Tod und Zerstörung in Israel und im Gaza-Streifen können und dürfen nicht gegeneinander aufgewogen werden. Jedes Opfer ist eins zu viel!“, sagte Kleine unter Applaus.

 

„Durch nichts in der Welt kann und darf dieser Terror gerechtfertigt oder relativiert werden“

 

Man trauere um die Menschen, die unschuldig aus dem Leben gerissen oder verletzt wurden und werden. „Und natürlich hoffen wir alle, dass in naher Zukunft der Krieg beendet sein wird! Wir beten um Frieden in Israel, im Gaza-Streifen, im ganzen Nahen Osten.“ Am 7. Oktober habe die Terror-Organisation Hamas auf brutalste Weise mindestens 1400 Menschen getötet, viele verletzt und mehr als 240 als Geiseln in de Gaza-Streifen verschleppt. „Die Berichte über den Terror der Hamas lassen einem das Blut in den Adern gefrieren“, so Stadtdechant Kleine. „Wie Menschen exekutiert wurden, wie gefoltert wurde. Wie Menschen vom Kleinkind bis zum alten Menschen massakriert wurden.“

Der schreckliche Terroranschlag sei der tödlichste Tag für Juden seit den Schrecken des Holocaust gewesen. „Ganz bewusst haben wir uns dafür entschiedne, am Vorabend des Gedenkens an die Reichspogromnacht von 1938 zu einem Schweigegang durch die abendlichen Straßen unserer Stadt einzuladen.“

Die christlichen Kirchen in Köln setzten an diesem Abend ein gemeinsames und deutliches Zeichen der Trauer und der Anteilnahme mit den Opfern des barbarischen Massakers, mit den Toten und Verletzten sowie den Verschleppten und ihren Familien und allen Trauernden, so der Stadtdechant. „ Durch nichts in der Welt kann und darf dieser in den verschleppten Geiseln, in den Verletzten und Traumatisierten noch heute andauernde Terrorakt gerechtfertigt oder relativiert werden“, so Kleine eindringlich. „Durch nichts in der Welt!“

 

„Fest an der Seite unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger“

 

„Wir sind dankbar, dass Sie so viele sind“, sagte Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger beim Auftakt am Kölner Dom. „Wir sind dankbar, dass wir gemeinsam heute ein klares Zeichen setzen.“ Dankbar sei man auch, dass die Fraktionen des Kölner Stadtrates mit vielen Vertretern am Schweigegang teilnahmen, so Seiger weiter. Der Schweigegang war von mehr als 30 kirchlichen, kommunalen und sozialen Organisationen und Institutionen sowie politischen Parteien unterstützt worden. „Das ist eine wichtige Botschaft von unserer Stadt in unser Land hinein.“ Mit dem Schweigen wolle man die Solidarität und die Verbundenheit mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Köln sowie mit allen Menschen jüdischen Glaubens in Israel und in aller Welt zum Ausdruck bringen.

Seit dem barbarischen Angriff der Hamas müsse man in vielen Ländern und auch in Deutschland erleben, dass es nicht nur Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber den jüdischen Opfern gibt, „sondern dass sich offener Antisemitismus Bahn bricht, auf Demonstrationen, in den Sozialen Netzwerken und auch in Schulen“, so Seiger. Er zeige sich in Schmiereien an Wänden und Angriffen auf jüdische Geschäfte. „Das erschreckt und uns muss uns wachrütteln!“, betonte der Stadtsuperintendent.

Der Antisemitismus breche auch in den Alltag der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger im Land und in der Stadt ein, so Seiger. „Man hat fast das Gefühl, Antisemitismus ist salonfähig und nicht mehr nur ein Thema der extremen Rechten, sondern auch in Teilen des linken, des migrantischen und des kulturellen Milieus. Wir gehen deshalb heute Abend gegen jede Form von Antisemitismus auf die Straße.“ Am Vorabend des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht sagen die Kölner Kirchen mit ihrem Schweigen: „Wir stehen fest an der Seite unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.“

 

„'Nie wieder!' ist jetzt – ohne Wenn und Aber“

 

Ministerpräsident Hendrik Wüst sagte im Interview mit DOMRADIO.DE über seine Teilnahme: „Es ist mir wichtig, auch an die Menschen jüdischen Glaubens ein Zeichen zu setzen, um zu verdeutlichen, dass sie in ihrer Verunsicherung und in ihrer Angst nicht allein sind. Wir müssen es klar benennen. Menschen jüdischen Glaubens haben in Deutschland aktuell wieder Angst. Das darf uns nicht kalt lassen. Wir müssen dagegen arbeiten. Wir müssen für ihre Sicherheit sorgen. Wir müssen aber auch als Gesellschaft ein Zeichen setzen, dass sie nicht allein sind, dass wir an ihrer Seite stehen.“

Der Ministerpräsident macht in seinen Verlautbarungen rund um den 9. November deutlich: „Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, allen entgegenzutreten, die sich auf die Seite des Terrors stellen. ,Nie wieder!' ist jetzt – ohne Wenn und Aber.“

Er sei den Kirchen in Köln dankbar für die Initiative des Schweigegang, so Wüst im DOMRADIO.DE: „ Die Kirchen bringen Menschen auf die Straße, sie bringen Menschen zusammen und sie können für interreligiösen Dialog sorgen. Das ist wertvoll, das ist wichtig“, so der Ministerpräsident.

Sein bewegendes Ende fand der Schweigegang nach einer Statio am Platz der am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht zerstörten alten Synagoge in der Glockengasse an der heutigen Synagoge in der Roonstraße. Dort wurden die Bilder von Entführungsopfern der Hamas an die Fassade projiziert. Bevor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer brennende Kerzen als Zeichen der Trauer um die Opfer des Hamas-Terrors und als Ausdruck der Solidarität mit Israel sowie mit den Jüdinnen und Juden in Köln auf der Mauer der Synagoge abstellten, sang Kantor Mordechay Tauber und Rabbiner Yechiel Leo Brukner sprach den aaronitischen Segen, der Juden und Christen verbindet.

 

Hildegard Mathies

 

Ein Video zum Schweigegang finden Sie hier und unten auf der Seite.

 

Eine Videobotschaft von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst zum 9. November sehen Sie hier.

 

Hier lesen Sie eine Gemeinsame Erklärung der Religionen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter und von Ministerpräsident Hendrik Wüst.

 

Auch die NRW-Bistümer haben eine Gemeinsame Erklärung veröffentlicht.

 

In der Gedenkstunde zum 9. November in der Kölner Synagoge sprachen in diesem Jahr Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger gemeinsam.

 

  

Vorbericht und Hintergrund:

   

„Wir wollen und müssen als christliche Kirchen die Stimme erheben“

 

Köln. Stadtdechant Msgr. Robert Kleine, Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger und der Vorsitzende des Katholikenausschusses in der Stadt Köln, Gregor Stiels, rufen am Mittwoch, 8. November, besonders unter dem Eindruck des Hamas-Terrors gegen Israel gemeinsam auf zu einem Schweigegang vom Dom bis zur Synagoge. Bewusst findet dieser Gang statt am Vorabend des Gedenkens an das Novemberpogrom von 1938, das sich am 9. November zum 85. Mal jährt. Der Schweigegang beginnt um 18 Uhr am Roncalliplatz und führt über die Glockengasse (Standort der ehemaligen Synagoge) zur Synagoge in der Roonstraße. Dort werden Kerzen als Zeichen der Trauer um die Opfer der Shoah und besonders der jüngsten Terrorangriffe der Hamas sowie als Zeichen der Solidarität mit Israel und den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Kölns abgestellt. Der Schweigegang will auch ein Zeichen setzen gegen den aktuell stärker und offener zutage tretenden Antisemitismus und den Hass gegen Israel und jüdische Menschen. Viele Organisationen und Institutionen sowie einige politische Parteien haben sich dem Aufruf als Unterstützer angeschlossen. Sie sind jeweils aktuell zu finden auf der Website zum Schweigegang.

 

Für Kölns Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger gab es nach den Terror-Angriffen der Hamas am 7. Oktober kein Zögern. Sie verurteilten nicht nur die Tötung von mehr als 1400 Menschen und die Verschleppung von Frauen, Kindern und Männern als Geiseln der Hamas in Stellungnahmen und Predigten. Sondern sie wollen ein gemeinsames und deutliches Zeichen setzen. Ganz bewusst haben sie sich dafür entschieden, am Vorabend des Gedenkens an die Reichspogromnacht von 1938 zu einem Schweigegang durch die abendlichen Straßen der Stadt einzuladen. Als dritter Veranstalter ist der Katholikenausschuss in der Stadt Köln mit dabei. Der Schweigegang ist ein Zeichen der Trauer und der Anteilnahme, aber auch der Solidarität und der Verbundenheit mit den Opfern des Terrors in Israel und den jüdischen Mitbürgerinnen und Bürgern in Köln. Bewusst soll an diesem Abend auf politische Stellungnahmen verzichtet werden. Der Schweigegang ist in enger Abstimmung mit der Synagogen-Gemeinde Köln geplant worden, um die Bedürfnisse der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in der aktuellen Situation zu achten.

„Die Berichte über den Terror der Hamas lassen einem wirklich das Blut in den Adern gefrieren“, sagt Stadtdechant Kleine. „Wie Menschen exekutiert wurden. Wie gefoltert wurde. Wie Menschen, vom Kleinkind bis zu alten Menschen, massakriert wurden.“ Doch bereits kurze Zeit nach den Ereignissen und dem daraufhin aufflammenden Krieg zwischen Israel und Palästina sei die öffentliche Stimmung weniger vom Entsetzen geprägt gewesen, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen sei, etwa nach den Anschlägen vom 11. September 2001 oder nach den Terror-Attacken des IS. Stattdessen sei in der Gesellschaft plötzlich etwas in Bewegung gekommen, das „manchmal blanker Antisemitismus ist“, so Kleine.

Man könne nicht verleugnen, dass der Hamas-Angriff ein Massaker gewesen sei und dass am Anfang dieses Krieges, in dem auf beiden Seiten Unschuldige leiden, ein Terrorakt gestanden habe, betont der Stadtdechant. Das und das Leid der Opfer dürfe man nicht relativieren, indem man auf die Siedlungspolitik Israels in Gaza oder die konfliktreiche Geschichte der beiden Nationen verweise. „ Wir sehen das Massaker als Massaker und wir sehen eine Gefahr eines aufkeimenden und inzwischen schon fast salonfähig werdenden Antisemitismus. Und da wollen und müssen wir auch als christliche Kirchen die Stimme erheben“, erklärt Kleine. „Das macht gar keinen Abstrich an den Opfern, die jetzt in der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen zu beklagen sind, und da ist jeder Tote natürlich einer zu viel.“ Aber wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt werde, wenn jüdische Menschen in einigen Ländern und auch in Deutschland bedroht werden, „dann müssen wir sagen: das ist antisemitisch“.

 

Historische Verantwortung der Kirchen

 

Antisemitismus sei in der Gesellschaft seit Jahrzehnten latent vorhanden, erinnert Stadtsuperintendent Seiger. In vergangenen Jahrhunderten hätten auch die Kirchen zu seinem Aufkommen und seiner Ausbreitung beigetragen – bis hin zu einem überwiegenden Schweigen in der Nazizeit. Nun trete der Antisemitismus aus dem Untergrund an die Oberfläche. Jüdische Menschen hätten wieder Angst um ihr Leben und davor, dass man ihnen erneut – wie im Holocaust beziehungsweise der Shoah – ihr Existenz- und Lebensrecht aberkennen und nehmen wolle. Antisemitische Äußerungen, aber auch dass die öffentliche Meinung aktuell eher auf der Seite der Opfer in Gaza zu stehen scheine, versetze Jüdinnen und Juden weltweit und auch in Deutschland in höchste Alarmbereitschaft. „Deshalb sehen wir, dass unser Platz als Kirchen unmissverständlich an der Seite unserer jüdischen Geschwister ist“, so Seiger. Und das in dem Wissen, dass „wir als christliche Kirchen in den vergangenen Jahrhunderten mit dazu beigetragen haben, dass überhaupt Antisemitismus entstanden ist“.

Jahrzehntelang habe nach den Gräueln der Shoah die Parole „Nie wieder!“ gegolten. Jüdisches Leben in Deutschland habe sicher sein sollen. Öffentliche antisemitische Äußerungen waren verboten und verpönt. „Jetzt ist der Zeitpunkt, das fett zu unterstreichen, denn die Eskalationsstufe, die wir haben, ist groß. Die Gefahr ist groß!“, warnt der Stadtsuperintendent. Erfreulich sei es aber zu sehen, dass alle politischen Kräfte, die Verantwortung tragen – Bundesregierung, Landesregierung und die politische Stadtspitze – klar verträten, dass es das Existenzrecht Israels zu schützen gelte. „Jüdische Einrichtungen sind zu schützen. Jüdische Schülerinnen und Schüler und jüdische Familien haben ein Recht auf ihr Leben und hier zu leben – und der Staat schützt sie. Da sind sich alle einig und das ist gut“, so Seiger. Auch der Kölner Rat der Religionen habe nach dem Terrorangriff der Hamas eine Stellungnahme herausgegeben, die sich ganz klar auch gegen aufkeimenden Antisemitismus positioniere. Diese Stellungnahme sei auch von den muslimischen Vertretern mitgetragen worden, darunter auch der Islamverband DITIB ergänzt Stadtdechant Kleine.

 

Klare Positionierung auch auf muslimischer Seite notwendig

 

Die Gesprächskultur der Religionsgemeinschaften in Köln sei gut. „Wir können hier in Köln aufrecht miteinander umgehen und zum Glück haben die Religionsvertreter eine klare Positionierung“, so Seiger. Es sei eine neue Entwicklung gewesen, dass sich die DITIB in Nordrhein-Westfalen nach dem Hamas-Terror an die Seite der Synagogen-Gemeinde gestellt habe, erläutert der Stadtsuperintendent. Auch der Imam der Ahmadiyya-Moschee in Köln habe das Massaker klar verurteilt, ergänzt Kleine. Dennoch erhoffen sich die beiden Kirchenvertreter von den muslimischen Verbänden sowie den muslimischen Bürgerinnen und Bürgern auch weiterhin eine deutliche Positionierung gegen Antisemitismus und Terror.

„Es kommt jetzt darauf an, auch in der muslimischen Welt, dass man sich klar positioniert und sich an das hält, was hier in Deutschland gilt: nämlich kein Hass, keine Ablehnung des Lebensrechts Israels“, fasst Seiger zusammen. In Deutschland leben rund 91.000 Jüdinnen und Juden sowie mehr als fünf Millionen Musliminnen und Muslime. Es bestehe die Gefahr, dass die Stimmung allein schon durch die zahlenmäßige Konstellation kippe, fürchtet Seiger. „Es muss ganz klar sein: nicht der, der mehr Menschen auf die Beine bringt, hat an dieser Stelle recht. Sondern es geht darum, die Sachlage klar zu kriegen: die Hamas IST eine Terrororganisation, die mit perfiden Mitteln arbeitet, auch mit ihrer ganzen Kriegs- und Verteidigungsstrategie, wo sie etwa ihre Kommandostände unter Krankenhäusern, öffentlichen Einrichtungen und Schulen einrichtet. Das ist eine Terrororganisation und das muss man benennen“, betont der Stadtsuperintendent.

Man könne ja einen politischen Diskurs führen und eine Zwei-Staaten-Lösung, die Politik Israels oder anderes diskutieren, sagt Stadtdechant Kleine. Eine politische Lösung sei jetzt aber leider erst einmal in weitere Ferne gerückt. Dass der Terror nicht weltweit verurteilt worden sei und dass das Massaker auch in Deutschland gefeiert und bejubelt worden sei, „das übersteigt eigentlich mein Denken, weil ich selbst immer noch entsetzt bin“, sagt Kleine. „Das erschüttert mich persönlich. Wenn man Berichte liest von dem, was da am 7. Oktober geschehen ist, wie barbarisch und unmenschlich das war, dann muss eigentlich jeder Mensch, egal, welcher politischen Richtung er nahesteht, zuerst einmal sagen: DAS geht nicht! Dass dieser Konsens aktuell weg ist, das kann ich nicht verstehen“, so der Stadtdechant. Auch deshalb, weil einem angesichts all dessen die Worte fehlen, wollen die Kirchen diesen Gang in Stille gehen. „Da ist dann vielleicht manchmal Schweigen ein beredteres Zeichen als dass man viele Worte macht“, meint Kleine.

 

„Jetzt ist jeder Einzelne gefragt in unserer Demokratie“

 

Die Kirchen appellieren an die Vertreter des Islam, aber auch an alle muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie an jeden, der Kontakt habe zu arabischen, türkischen und muslimisch geprägten Menschen, den politischen Diskurs zu suchen. Muslimische Menschen oder Menschen mit arabischem oder türkischem Hintergrund dürften jetzt aber auch nicht unter Generalverdacht gestellt werden, dass sie auf Seiten der Palästinenser stünden oder den Terror der Hamas unterstützten. Zudem sei auch das linke politische Spektrum vor Antisemitismus nicht gefeit.

Jede und jeder Einzelne sei jetzt gefragt, mit seinen Gesprächspartnern darüber zu sprechen: „ Was ist denn das, was da am 7. Oktober passiert ist? Und wie stehen wir dazu? Was geht nach unserer Haltung in einer Demokratie, die den Menschenrechten verpflichtet ist? Und was geht nicht?“ Es sei eine staatsbürgerliche Pflicht, sich jetzt klar gegen Antisemitismus und Terror zu positionieren, betont Stadtsuperintendent Seiger: „Denn das Schweigen gegenüber dem Unrecht, was Juden geschehen ist vor 85 Jahren, war ein wesentlicher Faktor, dass sich landesweit eine solche antisemitische Haltung durchsetzen konnte.“ Wer aus zeitlichen oder anderen Gründen nicht am Schweigegang teilnehmen könne, könne ja in dieser Zeit und auch am Abend des 9. November eine Kerze ins Fenster stellen schlägt Seiger vor. „Dann ist man miteinander verbunden. Und sagt damit auch: Ich bin ein wacher Mensch.“

 

Ein Zeichen der Unterbrechung

 

Der Schweigegang sei auch ein Zeichen der Unterbrechung, so Seiger. Es gebe bei politischen Stellungnahmen sehr schnell ein „Ja, aber…“ „Israel hat ein Massaker erlebt, das ist schrecklich, ja, aber das geht doch zurück auf die Siedlungspolitik und auf die Abschottungspolitik Gazas und auf Netanjahus Regierung“, zitiert er kritische Stimmen und fährt fort: „Aber das ,ja, aber' kommt in Sekundenschnelle. Und das wird dem geschehenen Leid nicht gerecht. Deswegen treten wir als Kirchen für die Unterbrechung ein. Das ist auch ein geistlicher Akt. Halt doch bitte aus: es gibt hier Opfer, es ist gestorben worden, es ist gelitten worden, in größter Unmenschlichkeit! Kinder sind bei lebendigem Leib verbrannt worden, davon gibt es Videos. Das sind Dinge, da kann ich nicht sofort weitergehen und sagen ,Ja, aber…' Es ist auch unsere Pflicht alls Kirchen. Die Entschleunigung und die Trauer, dafür Raum zu schaffen.“

Doch es geht nicht nur darum, dem Entsetzen und der Trauer Ausdruck zu geben. In den Kirchen wird auch für den Frieden gebetet. „Wir beten nicht nur für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern wir beten auch für die Menschen im Gazastreifen. Wir beten auch dafür, dass es Friedensperspektiven gibt, auch wenn wir wissen, dass auf beiden Seiten jetzt wieder eine Generation voller Hass geschürt worden ist. Aber wir beten für den Frieden“, betont Seiger.

Stadtdechant Kleine war noch im Frühjahr auf einer Reise in Israel unterwegs. „Da war das ja alles noch in weiter Ferne, da gab es nur Demonstrationen gegen die Justizreform, von israelischen Bürgern. In Jerusalem waren kaum Soldaten auf der Straße. Man merkt, dass Schwarz-Weiß-Denken nicht einfach funktioniert. Da leben die Muslime, die Christen und die Juden. Das erinnert mich immer an die Ringparabel von Lessing – eigentlich kann man doch auch miteinander leben und es gibt ja auch gerade in unserer Stadt auch dieses friedliche Miteinander. Wie sähe die Welt aus, wenn es eben friedlicher wäre?“

Leider sei der Staat Israel aber auch umgeben von Ländern, die nicht alle demokratisch geführt seien und wo es viele Aggressionen gebe. „Da ist natürlich auch die Sorge da, dass das nicht noch weiterkocht. Da ist soviel Hass gegen den Staat Israel., da geht es wirklich um die Vernichtung“, sagt Kleine. „Oder wenn man dann Reden hört, dass Israel, der blutige oder der rostige Dolch im Leib des Nahen Ostens sei, dann merkt man erstmal, was da noch alles hintersteckt, auch an Konflikten und dass sich das sehr schnell ausweiten kann. Man muss befürchten, dass das von den Kriegstreibern vor Ort gewollt ist. Deshalb ist es uns so wichtig: Hier geht es darum, an der Seite Israels zu stehen und auch in unserer Stadt und für unsere Stadt, aber auch darüber hinaus in Deutschland Partei zu ergreifen und die Stimme zu erheben für unsere jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen.“

Stadtdechant Kleine hat nach dem Hamas-Terrorangriff beobachtet, dass auf der Domplatte die Flagge Israels aus dem Flaggenbild der Straßenmaler verschwunden ist, während die palästinensische Fahne weiterhin aufgemalt wird und auch viel Geld dort abgelegt wird (einige Straßenmaler malen Kreise mit den Flaggen vieler Länder, auf die dann von Touristen und Passanten oft Münzen abgelegt werden – Anmerkung der Redaktion). „Wir müssen dem Antisemitismus etwas entgegensetzen, gerade auch in unserem Land“, betont er noch einmal. „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“. Gerade als Kirchen sei man den älteren Geschwistern, wie die Juden auch genannt werden, verpflichtet, denn Jesus selbst war Jude und wuchs in jüdischer Tradition auf. „Dass wir wieder eine so große jüdische Gemeinde in Köln haben, dass Menschen nach dem, was geschehen ist im Nationalsozialismus auch wieder nach Deutschland kamen, auch hierher nach Köln, das muss uns doch eigentlich positiv beschämen“, so Stadtdechant Kleine. Man könne dankbar sein, dass sie hier wieder leben und ihren jüdischen Glauben wieder leben wollten. „Auch dafür gehen wir auf die Straße.“

 

Hildegard Mathies

  

Der Aufruf der beiden Kirchen

 

„Wir trauern um die Opfer des Terrors gegen Israel. Wir stehen an der Seite unserer jüdischen Mitbürger*innen!“

Das Katholische Stadtdekanat Köln und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region sowie der Katholikenausschuss in der Stadt Köln rufen zu einem Schweigegang am Vorabend des Gedenkens an die Pogromnacht am 9. November 1938 auf. 

Der Schweigegang startet am Mittwoch, 8. November, um 18 Uhr auf dem Roncalliplatz. Er endet um 19.30 Uhr vor der Synagoge in der Roonstraße.  

Schon vor den grausamen Terrorangriffen gegen Israel am 7. Oktober und den sich anschließenden antisemitischen Übergriffen auch in Deutschland wurden Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger vom Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln gebeten, die Festrede zum Gedenken am 9. November in der Synagoge zu halten. 

Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Katholikenausschusses, Gregor Stiels, ist es ihnen ein Anliegen, mit dem Schweigegang nun auch ein öffentliches Zeichen der Anteilnahme und Verbundenheit mit Israel und den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Kölns zu setzen.   

Menschliches Leid, Tod und Zerstörung in Israel und im Gazastreifen können und dürfen nicht gegeneinander aufgewogen werden. Jedes Opfer ist eines zu viel. Die Massaker am 7. Oktober haben aber Jüdinnen und Juden nicht nur in Israel an die Schrecken der Shoa erinnert. Am Vorabend des 85. Jahrestags der Novemberpogrome möchten wir als Christinnen und Christen ein deutliches Zeichen setzen, dass die 1.400 Opfer der Massaker und Geiselnahmen der Hamas-Terroristen am 7. Oktober nicht vergessen sind.


Die Aufrufenden freuen sich, wenn möglichst viele Menschen sowie weitere Organisationen, Gemeinden oder Gruppen den Gang unterstützen. 

 

Aufruf Schweigegang und Flyer Schweigegang

 

  

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