„Kinder werden nicht von Marsmenschen erzogen“: 20 Jahre SchulTag – 20.000 Pädagog*innen für Offene Ganztagsbetreuung qualifiziert

9. September 2024; ksd

 

Köln. Fünfjährige, die handysüchtig sind und sich brutalste Gewalt- und Sexvideos ansehen. Kinder, die mit Mobbing-Erfahrungen aus der Grundschule kommen. Jugendliche, die zukunftspessimistisch sind und aufgrund der vielen Krisen in der Welt – von Klima bis Krieg – Angst vor der Zukunft haben. Dazu gelten mindestens 20 Prozent der Kinder als arm. – Es ist heutzutage besonders herausfordernd und in vielen Fällen ein Problem für Familien, Pädagog*innen, Erzieher*innen und andere Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche im Aufwachsen und bei ihrer Entfaltung zu begleiten. Aus diesen und vielen anderen Gründen – Stichwort Betreuungsbedarf durch die Berufstätigkeit beider Elternteile – ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler in Offenen Ganztagsschulen qualifiziert betreut und begleitet werden. 

Seit zwei Jahrzehnten qualifiziert das Bildungswerk der Erzdiözese Köln e.V. im Rahmen des Kurskonzeptes „SchulTag“ Menschen für diese Aufgabe sowie für die Gruppenleitung und Leitungspositionen an Offenen Ganztagsschulen, die die Förderung der Grundschüler außerhalb des Unterrichts weitertragen. Bei diesem Schultyp findet vormittags der reguläre Unterricht statt und am Nachmittag können die Schülerinnen und Schüler freiwillig an Förder-, Freizeit- oder Sozialangeboten teilnehmen. Mittlerweile hat das Programm 20.000 Pädagoginnen und Pädagogen qualifiziert. Zum Auftakt einer Reihe von Jubiläumsfeiern in der Diözese luden das Katholische Bildungswerk Köln und die Familienbildung Köln e.V. ins FamilienForum Köln Deutz-Mülheim ein, wo ein Teil der Qualifizierungskurse stattfindet. Gastredner waren Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Fraktion im NRW-Landtag, und Stefan von der Bank, neuer Pädagogischer Leiter des Bildungswerks der Erzdiözese Köln.

 

„Wir haben einen schonungslosen Individualismus vorangetrieben“

 

Jochen Ott, bis 2010 selbst als Lehrer für Geschichte, Sozialwissenschaften und Katholische Religion an der Gesamtschul Brühl tätig, hatte nicht nur auf aktuelle Jugendstudien verwiesen, die belegen, wie viel Angst Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 13 und 25 Jahren vor der Zukunft haben. Er hatte auch den Bogen gespannt von den Kleinen, die ungefiltert ungeeignete Inhalte an digitalen Endgeräten wie Handy oder Tablet konsumieren, zu den vielen Kindern und Jugendlichen „mit psychotherapeutischen Bedarfen“ oder Erkrankungen wie Magersucht.

Es nerve ihn, wenn sich „mal wieder alte weiße Männer“ beklagten über „diese Gesellschaft, diese Erziehung, diese Kinder und was die alles machen“. Ott: „Diese Kinder sind ja nicht von Marsmenschen erzogen worden, und diese Gesellschaft auch nicht, sondern sie ist ja geprägt worden von uns! Wir sind das ja schuld, wir haben diese Gesellschaft so gemacht“, sagte er mit Blick auf seine eigene Generation 50plus. „Und wir haben einen schonungslosen Individualismus vorangetrieben.“

 

Jochen Ott: Ganztagsbetreuung auch in NRW gesetzlich verankern

 

Daraus ergäben sich Fragen: „Was ist das Verbindende? Was ist das Wir? Was hält uns zusammen? Und was sorgt dafür, dass dieser Individualismus uns nicht kaputt macht?“, so der Politiker.  „ Diese Fragen müssen wir uns stellen, und dann ist da die Frage: wo packt man da an?“ Hier seien die qualifizierten Kräfte im Offenen Ganztag an einer entscheidenden Stelle, bescheinigte Ott den Anwesenden. „Sie sind bei den Kindern und Jugendlichen, dort, wo vor Ort die Arbeit geleistet wird und wo man sich vor allem eins wieder ins Bewusstsein rufen muss: Wir brauchen Zeit! Unsere Kinder brauchen Zeit! Und zwar analoge Zeit.“

Strukturen müssten so geschaffen werden, dass Eltern und Kinder sich darauf verlassen könnten, „ dass unsere Strukturen sie stützen“, betonte Ott. Es sei falsch, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Nordrhein-Westfalen noch nicht gesetzlich verankert sei, machte der Politiker seine Position deutlich. Aber er sei dem Städtetag dankbar, dass dieser Anspruch ab 2026 stufenweise umgesetzt werden solle. 

Es sei auch falsch, dass Erzieherinnen, die dies wollten, keine Vollzeitstellen angeboten würden, sondern sie erst ab dem Nachmittag in der Betreuung eingesetzt würden. „Wir müssen natürlich einen rhythmisierten Ganztag haben und wir brauchen Kollegien, die zusammengesetzt sind aus Lehrkräften und anderen Berufsgruppen“, erläuterte Jochen Ott. „Wir brauchen als Stellvertreter jeder Schulleitung einen Erzieher oder eine Sozialpädagogin, um einfach diese Lehrersicht zu ergänzen.“

 

„Es geht nicht um Verwahrung und Betreuung, es geht um Entfaltung“

 

Vor 20 Jahren war Stefan von der Bank Pädagogischer Mitarbeiter im damaligen Katholischen Bildungswerk im Rhein-Erft-Kreis, in dem eine Kollegin den Start des Konzepts SchulTag vorbereitete. Ende Juni 2024 wurde von der Bank – nach verschiedenen anderen Tätigkeiten im Erzbistum – zum Nachfolger von Peter Scharr als Pädagogischer Leiter des Katholischen Bildungswerks der Erzdiözese Köln berufen. Zu Beginn seiner Ansprache nahm er die Zahl der Teilnehmenden in den Blick, die sich durch SchulTag qualifizieren: „2004 waren es 99 Teilnehmende im Jahr“, erinnerte er. „2023 waren es knapp 1000. Das ist eine Wachstumsrate – das soll uns mal einer nachmachen.“ In Köln nahmen im Jahr 2023 an den verschiedenen SchulTag-Angeboten insgesamt 240 Frauen und Männer teil. SchulTag werde auch über die Bistumsgrenzen hinaus geschätzt; auch aus anderen Bistümern und von anderen, säkularen Trägern würden Teilnehmer zur Qualifizierung ins SchulTag-Programm geschickt, so von der Bank.

Von der Bank erinnerte an den christlichen Bildungsauftrag: „Die Kirche macht das eigentlich schon seit Jahrtausenden, wenn man an die Klöster denkt und an die Schule, wie sie sich entwickelt hat. Dabei ist immer zentral, den ganzen Menschen im Blick zu haben. Das finden wir in den Konzepten von SchulTag wieder.“ Es gehe darum, für Kinder „Möglichkeitsräume der Entfaltung“ zu schaffen. „Es geht ja nicht um Verwahrung und Betreuung, sondern es geht um Entfaltung von Kompetenzen, das eigene Wahrnehmen: Was kann ich? Wohin will ich mich entwickeln? Und das in einer Freiheit, die wir zum Glück in unserem Land in den letzten 70, 80 Jahren auf eine Weise entwickelt haben, die wir hoffentlich bewahren können“, sagte von der Bank.

 

„Kirche geht in Lücken, die der Staat nicht füllt“

 

„Was kann ich dafür tun, dass die gesunde Entwicklung von Kindern möglich ist?“ Diese Kernfrage steckt in den vielfältigen Qualifizierungsangeboten von SchulTag. „Das macht dieses Konzept in gewisser Weise einmalig und darauf bin ich stolz, darauf können wir alle stolz sein“, sagte Stefan von der Bank. „Das ist auch die Botschaft an Politik und Gesellschaft. Man hört über Kirche sehr viel Negatives, aber: Kirche geht in Lücken, die der Staat nicht füllt.“

Mit mehreren Workshops, in denen Resilienz- und Kreativitätsförderung bei Kindern mit Teilnehmenden beziehungsweise politische Perspektiven vertieft wurden, mit einem Imbiss und vielen Gesprächen schloss die Jubiläumsveranstaltung „mit der Gewissheit, dass SchulTag Perspektiven für die Betreuungskräfte und die Kinder schafft“, so das Fazit des Katholischen Bildungswerks Köln.

 

Hildegard Mathies

 

Stichwort SchulTag

 

SchulTag ist ein landesweit anerkanntes und langjährig in der Praxis bewährtes Qualifizierungskonzept für die Arbeit im Offenen Ganztag. Es ist von Fachleuten aus der Erwachsenenbildung und der Jugendhilfe im Erzbistum Köln entwickelt worden.

In den Qualifizierungen wird ein Bildungs- und Betreuungsverständnis vermittelt, das eine konsequente Orientierung am Kind und seinen Bedürfnissen enthält. Berücksichtigt werden im Kurs aber auch die berufsbezogenen Interessen und Perspektiven der Beschäftigten im Offenen Ganztag. Die Qualifizierung befähigt zu einer pädagogisch kompetenten und sicheren Arbeit in der OGS.

Das Qualifizierungskonzept SchulTag wird im Erzbistum Köln flächendeckend durchgeführt in:

 

Grund- und Aufbaukursen (jeweils halbjährig)

Gruppenleitungsqualifizierungen (zweijährig)

Leitungskräfteseminaren

Supervisionen

„SchulTag Plus“-Angeboten (monothematische Fortbildungstage)

Inhouse-Schulungen

 

Weitere Informationen unter www.schultag.info

 

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