Glaubensfreude statt Kirchendepression – Annette Schavan und Henriette Reker zu Gast im DOMFORUM

10. September 2024; ksd

 

Köln. Es ist leicht, sich in eine „Kirchendepression“ oder „Insolvenzrhetorik“ hineinzureden. Das machte die frühere Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie ehemalige Vatikanbotschafterin Annette Schavan kürzlich bei einer Podiumsveranstaltung im DOMFORUM deutlich – und warnte direkt davor, dieser Versuchung nachzugeben. Stattdessen warb sie gemeinsam mit Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker dafür, trotz aller Kirchenkrisen, Skandale und gesellschaftlichen Entwicklungen das Christentum neu oder wieder als Kraftquelle und Rettungsanker zu entdecken. Anlass für das Gespräch war das von Schavan konzipierte und herausgegebene Buch „ Pfingsten! Warum wir auf das Christentum nicht verzichten werden“, für das auch Reker einen persönlichen Beitrag verfasst hat.

Nur auf das Negative und Problematische zu schauen oder die Kirche kleinzureden, werde dem Christentum nicht gerecht, so Schavan in einem Impulsreferat zu Beginn. „Das Christentum ist ja wirklich eine ganz großartige Sache“, betonte Schavan, die im Nebenfach Theologie und Philosophie studiert hat. Es könne zu einer Haltung und ganz neuen Sicht auf den Menschen führen, die jede und jeden in ihrer und seiner unverwirkbaren Würde ansehe und achte – unabhängig von der jeweiligen Rolle, von Leistungen oder anderen Faktoren. „Das ist die Botschaft des Jesus von Nazareth.“

 

„Verrat am Evangelium“ benennen

 

Mit ihrem Buch, zu dem viele prominente Autorinnen und Autoren einen persönlich geschriebenen Text beigetragen haben, sei es ihr um genau diesen Brückenschlag gegangen: „Man muss den Verrat am Evangelium benennen, den es immer wieder gegeben hat und den es heute gibt. Der ist schlimm. Aber wir müssen hin und wieder auch eine Brücke bauen zur Großartigkeit der Botschaft.“ Angesicht der jährlich veröffentlichten, immer noch hohen Kirchenaustrittszahlen dürfe man nicht immer nur an sinkende Kirchensteuereinnahmen denken, so Schavan. „Dann ist immer nur die Frage, wer macht das Licht irgendwann aus. Das kann ja nicht Aufgabe unserer Zeit oder unserer Generation sein.“

Schavan, die mehr als zehn Jahre lang eine der Vizepräsidentinnen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) war, machte deutlich, dass es ihr nicht darum ging, die großen Fragen und Reizthemen noch einmal aufzuwerfen. Die Debatten habe sie alle geführt. „Natürlich gehöre ich zu den Frauen, die sagen, Frauen müssen geweiht werden können. Am besten als erstes eine Kardinälin.“ Aber die Institution sei ja auch in manchem davon abhängig, „wie wir so sind“, so Schavan. „Wenn alle Christen nurn noch raummaulen, wie soll denn die Institution Ausstrahlung haben?“

Mit dem Christentum seien eine Kraft und eine Botschaft verbunden, „die diese Welt so dringend braucht wie zu allen Zeiten“, sagte Schavan. „Und je unversöhnlicher es in der Welt zugeht, je mehr Spaltungsgeschichten geschrieben werden, umso mehr braucht es diese Kraft des Christentums mit seiner neuen Sicht auf den Menschen, mit seiner Kraft zur Versöhnung. Aber auch mit dem, ich nenne es mal zweiten Blick auf die Wirklichkeit. Also nicht nur auf das, was so offenkundig ist, sondern ein tieferer Blick auf die Wirklichkeit, der uns die Möglichkeit gibt, Kraftquellen zu entdecken.“

 

„Europa muss seine christliche Wurzel wahrnehmen, sonst verliert es sich“

 

Die Gesellschaft vergesse manchmal, wie stark das Christentum Europa und auch weite Teile der Welt geprägt habe. Schavan nannte Kunst und Kultur als Beispiele, doch geht es weit darüber hinaus, wenn man an Architektur, Philosophie und Humanismus denkt. Das Christentum habe etwa die Diskussion über die Menschenrechte stark geprägt. „Vieles, das uns selbstverständlich ist, das wir vielleicht verbinden mit Aufklärung und moderner Zeit, hat einen tieferen Grund im Christentum“, bekräftigte Schavan. Wenn sie manche aktuelle Debatte erlebe, „dann denke ich mir, wenn dieses Europa nicht auch diese Wurzel wahrnimmt, in aller kulturellen Vielfalt, dann wird es sich selbst verlieren“ .

Papst Franziskus habe so oft wie kein anderer Papst betont, dass die Kirche und das Christentum „ an die Peripherien“ gehen müssen, an die Ränder der Gesellschaft, dorthin, wo die Armen und Ausgestoßenen, die Abgehängten und Ausgegrenzten sind. „Also ich sage das ein bisschen frecher“, sagte Schavan, „ich sage: so wie Innovationen in der Politik nicht aus einem Ministerium kommen, kommen sie in der Kirche nicht aus einer Kathedrale.“

 

Glaube und Kirche sind nur noch eine Option

 

Der Kölner Dom sei zwar „super“ und werde von 3,5 Millionen Menschen jährlich besucht, er sei identitätsstiftend und stehe für das, was für die Geschichte und die Stadt von großer Bedeutung sei. „Aber in der Welt von heute ist der Glaube keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Option.“ Früher sei in der Kirche vieles vermeintlich schöner und einfacher gewesen. „Aber wir müssen dem nicht nachtrauern“, so Schavan. Heute wisse man, was sich alles ereignet habe, das Verrat am Evangelium sei, wie der sexuelle und geistliche Missbrauch an so vielen Menschen.

Heute müssen und wollen sich Menschen aktiv für den Glauben und die Kirche entscheiden. „Weshalb ich es zum Beispiel wichtig finde, dass die Kirche jetzt nicht am allermeisten spart bei den Schulen und bei der Bildung. Da trifft man nämlich die jungen Leute, da kann man ihnen Chancen eröffnen“, erklärte Schavan. „Die Kirche muss ihre Prioritäten neu finden.“

Vieles werde schon in ökumenischer Gemeinschaft getragen, wie die Telefonseelsorge oder Gruppen und Einrichtungen in der Hospizbewegung. „Und da gibt es auch andere Themen für die Kirche. Da wo es Menschen schwer wird im Leben, da wo Menschen niemanden mehr finden, der irgendwie mit ihnen zu tun haben will, da wo Gerechtigkeit immer mehr abnimmt, da wo Gesellschaften immer unversöhnlicher werden“, betonte Schavan. „Das ist das, was uns ja politisch solche Sorgen macht. Die wachsende Unversöhnlichkeit, die wachsende Debatte, wo nur Menschen aus einer Blase sich über die andere Blase aufregen, aber nicht auf die Idee kommen, dass die in der anderen Blase vielleicht auch Recht haben. Das, finde ich, sind die Peripherien heute. Und das Christentum hat 
mit dem Leben Jesu eine großartige Botschaft.“

 

Von selbstbewussten Nonnen geprägt

 

Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die als evangelische Schülerin eine katholische Schule besuchte, bezeichnet sich als „konfessionellen Mischling“. Vieles habe sie von dort mitgenommen, so die frühere Sozialdezernentin und erste Oberbürgermeisterin Kölns. „Ich bin da geprägt worden von den ersten selbstbewussten Frauen, kann man wohl sagen. Von Nonnen, die uns vermittelt haben, ,ihr könnt alles werden, was ihr wollt ‘.“

Sie sei oft gefragt worden, woher sie nach dem Attentat, das 2015 einen Tag vor ihrer Wahl zur OB auf sie verübt worden war, die Kraft genommen habe, weiterzumachen und dieses Amt anzutreten. „ Für mich ist das irgendwie gar nichts Besonderes“, erklärte sie. „Ich bin ja da durch Glück oder göttliche Fügung gut rausgekommen.“ Sie habe eine Aufgabe gehabt und viele Menschen hätten sich darum bemüht, „dass mir diese Aufgabe übertragen wird“, so Reker. „Und wenn die Kölnerinnen und Kölner mich gewählt haben, dann sollen sie auch sehen, was sie dafür bekommen können. Und dadurch, dass sie mich (2020 – sic.) wiedergewählt haben, war ich ja dann auch bestätigt.“

 

Diversität als Herzensthema und ein stadtgewordenes Pfingstwunder

 

Knapp zwei Monate nach ihrem Amtsantritt passierten die als „Kölner Silvesternacht“ bekanntgewordenen Vergewaltigungen und massenhaften sexuellen Übergriffe auf dem Bahnhofsvorplatz, im Schatten des Kölner Doms. „Die Kölner und Kölnerinnen haben mich im Grunde unterstützt“, erinnerte sich Reker an diese Zeit, in der sie immer noch mit den Folgen des Attentats zu kämpfen gehabt und beispielsweise nur noch 48 Kilogramm gewogen habe. „Es war nämlich kein einziger Geflüchteter aus einer Kölner Unterkunft, der angeklagt wurde.“ Die Stimmung in der Stadt sei nicht gekippt, etwa was die Unterbringung von Geflüchteten betraf.

Dass Diversität ein Herzensthema sei, wie sie in ihrem Buchbeitrag schreibt, habe sicher auch mit ihrer christlichen Erziehung zu tun, antwortet die Oberbürgermeisterin auf eine Frage von Moderator Johannes Schröer, stellvertretender Chefredakteur von DOMRADIO.DE. Köln sei ein „ stadtgewordenes Pfingstwunder“, formuliert Henriette Reker es in dem Buch von Annette Schavan. Mit den Kindern der sogenannten Gastarbeiter und der amerikanischen Soldaten aufgewachsen, sei es für sie „ganz normal“ gewesen, „dass sich Köln so zusammensetzt“, erinnert sich die OB.

Heute bestehe Köln aus 180 Nationen und 130 Religionsgemeinschaftenn. Mindestes 40 Prozent der Kölnerinnen und Kölner haben eine internationale Familiengeschichte, 50 Prozent seien es schon bei den Jugendlichen. Prägend seien auch die Gelassenheit und der Respekt im Umgang mit anderen Sexualitäten gewesen. „Und dazu diese wunderbare Kathedrale als Identifikationspunkt“, so Reker in Sichtweite zum Dom.

 

Kontinent der Vielfalt

 

Hinter diesen Zahlen stecke „ein ungewöhnlicher Schatz an Verschiedenheit“, bekräftigte Schavan, „und das heißt auch an verschiedenen Erfahrungen, verschiedenen kulturellen, religiösen, sozialen Herkünften.“ Es sei schade, dass Vielfalt in Teilen der Gesellschaft nur noch „als eine Quelle von Gefahr und von Ungemütlichkeit“ diskutiert werde – und weniger, „was damit an großartigen Perspektiven für eine Stadt verbunden ist“.

Wenn man den Fernseher anschalte oder die Schlagzeilen lese, „dann ist das alles eben eher gefährlich als großartig“. Auch im ländlichen Raum habe fast die Hälfte der Kinder einen Migrationshintergrund. „Und es wird zunehmen“, so Schavan. „Deshalb glaube ich, dass das Christentum da eine große Aufgabe hat, denn wir sind Weltkirche. Christentum heißt Weltkirche. Nationale Grenzen sind für uns überhaupt nicht das Entscheidende, sondern die Grenzüberschreitung, das was an Brücken gebaut wird.“

Die Gründer der Europäischen Union hätten einen „Kontinent der Vielfalt“ gewollt. „Wenn dieser Kontinent der Vielfalt es schafft, nicht mehr gegeneinander Krieg zu führen, sondern wenn es gelingt, Brücken zu bauen und, eine Einheit zu finden, die basiert auf dem, was uns die evangelische Sozialethik und die katholische Soziallehre liefern, dann wird es eine große Zukunft“, sagte Schavan. „Das müssen wir jetzt irgendwie aufrechthalten.“

 

„Drinbleiben lohnt“

 

Schavan hatte anfangs davon berichtet, wie der frühere Vizekanzler und ehemalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler überlegt habe, aus der Kirche auszutreten. Auch er hat einen Beitrag in ihrem Buch verfasst. Eine Reise zu seinen Wurzeln – in das vietnamesische Waisenhaus, von dem aus er als Säugling auf den Weg geschickt wurde, um mit anderen Boat-People nach Deutschland zu reisen – änderte seine Meinung. Dort hatte er erlebt, wieviel Gutes die Ordensfrauen, die das Haus leiteten, bewirkten.

Reker erzählte, dass sie mit Menschen, die ihren Austrittswillen bekunden, darüber spreche. Dabei spiele es für sie keine Rolle, ob sich jemand von der evangelischen oder von der katholischen Kirche trennen wolle. Sie erzählt dann von sozial-karitativen Projekten und Einrichtungen, die sie kennt, und erklärt, dass diese durch die Kirchensteuer finanziert werden. „Manchmal kann ich die Leute überzeugen, dass sie so mit ihren Kirchensteuern auch Gutes für die Gesellschaft tun.“

 

„Papst Franziskus räumt Steine aus dem Weg“

 

Sie werde es wohl nicht mehr erleben, dass Frauen zu Weiheämtern zugelassen werden, so Annette Schavan mit Blick auf den Reformbedarf in der Kirche. „Ich muss mich doch jetzt nicht den Rest meines Lebens abarbeiten an der Reformagenda“, sagte sie. Viel wichtiger sei es ihr, von den Erfahrungen zu berichten, die sie als Christin und in ihrem Leben gemacht habe.

Mit Papst Franziskus verbinde sie aber die Zuversicht, „dass bei manchen Themen Steine aus dem Weg räumt“. Es sei Zeit, um die Tür zu öffnen. „Er wird sie aber nicht selbst öffnen, sondern er schafft aus dem Weg, was einem Nachfolger schwer sein könnte“, zeigt sich Schavan überzeugt. „Das gilt für alle Themen der Sexualethik. Das gilt auch für die Frauenfrage.“

Bei ihrem Abschiedsbesuch zum Ende ihrer Amtszeit als Vatikanbotschafterin sei auch die Frage nach Frauen in der Kirche Thema gewesen. Franziskus habe darauf verwiesen, dass Papst Johannes Paul II. die Weihe von Frauen ausgeschlossen habe. „Dann habe ich gesagt: ,Ja, aber jetzt sind Sie doch der Papst ‘. Man kann ja in so einem Pontifikat Dinge so festzurren, dass der Nachfolger das dann nicht einfach so wegkriegt. Ich komme aus der Politik, ich weiß schon wo die Macht ist.“ Aber es gebe mehr Themen, als „wir das im Gedächtnis haben“ bei denen Papst Franziskus, „uns gezeigt hat, wo die Türen sind, durch die wir gehen können“, erklärte Schavan. „Es gibt so viele Zitate, die hängen irgendwo in der Luft. Daraus entstehen keine Doktrinen – aber wir können uns darauf berufen.“

 

Hildegard Mathies

 

Annette Schavan (Hrsg.): Pfingsten! Warum wir auf das Christentum nicht verzichten werden (Droemer Knaur, 2024). 304 Seiten, 26 Euro (gebunden).

 

Mehr unter annette-schavan.de

 

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